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Friday 31 May 2013

Das griechische Orakel ..... Trotz Krise ist Griechenland noch immer ein starkes und magisches Land....

 
Blick auf das historische Dionysos Theater von der Akropolis gesehen, im Hintergrund das neue Akropoli-Museum ( faz.net)
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Trotz Krise ist Griechenland noch immer ein starkes und magisches Land. In Auszügen aus seinem Tagebuch schildert der Schriftsteller Eigen Ruge seine ganz persönlichen Begegnungen mit dem dem Volk der Hellenen.

[
****Eugen Ruge, Jahrgang 1954, wuchs in der DDR auf und siedelte 1988 in die Bundesrepublik über. Vor zwei Jahren wurde sein Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ mit dem Deutschen Buch- preis ausgezeichnet. Seine Reisenotizen aus Griechenland bilden wir hier in gekürzter Fassung ab.]

Erster Tag
THESSALONIKI
Zum Auftakt, im Flugzeug, lese ich in der Zeitung, dass die zyprische Regierung unter dem Druck des IWF und der EU beschlossen habe, alle, auch kleine Sparguthaben, mit einer Abgabe zu belegen - zur Rettung des Bankensystems. Geldautomaten gesperrt. Aufstand in Zypern. Der Unmut wächst, vor allem gegen die Deutschen.



Thodoris holt uns am Flughafen ab. Zwölf Grad, leichter Regen. Ernüchternder erster Eindruck. Brutaler Autoverkehr zwischen Sechziger-Jahre-Bauten. Nur selten taucht eine würdige alte Stadtvilla auf - meist schon im Verfall.
Thodoris eröffnet uns, dass er am Nachmittag zu einer kleinen Feier mit Freunden geladen ist: Ob wir ihn nicht begleiten wollen. Heute sei „Reiner Montag“, so heißt es in der orthodoxen Kirche. Man stimmt sich auf die Fastenzeit ein.
Zwei junge Frauen holen uns mit dem Auto ab. Das Restaurant ist irgendwo draußen auf dem Land. Wir irren eine Weile zwischen Feldern umher (es sind Reisfelder, so wird uns erklärt). Waten schließlich mit unseren Sommerschuhen durch den Matsch zu einer Baracke, aus der dünner Rauch aufsteigt.
Und plötzlich: Griechenland! Große Gesellschaft an einer langen, bacchantischen Tafel. Gesang, Gitarre, eine Bouzouki: Rembetico heißt die Musik der vertriebenen Schwarzmeergriechen, in der die ewige Sehnsucht und das ewige Verlorensein aufgehoben ist. Man gießt uns Retsina ein, schiebt uns eine Platte mit frittierten Bakaliaros hin (Stockfisch), prostet uns zu, noch vom äußersten Ende der Tafel. Ein alternder Achill mit abstehenden Haaren setzt zum Solo an, dann fallen die Frauen ein, beiläufig, aber mit einer Melancholie, die einen umhaut - während draußen vor dem riesigen Glasfenster der grüne Fluss fließt und fließt ...
Wo kommt ihr her, die obligatorische Frage. Wir beantworten sie mit leichtem Unbehagen. Auf einmal können alle Deutsch: Auf die deutsch-griechische Freundschaft!
Zweiter Tag
THESSALONIKI
Wir treffen uns mit Thodoris am Weißen Turm, dem Wahrzeichen Thessalonikis. Von hier aus gehen wir ins Zentrum, wo noch ein paar ältere, kleine Häuschen sich um die Markthalle herumducken. Hier finden wir einen Schuster, der mir meine Ledertasche repariert - für einen Euro.
Übrigens ist Griechenland sonst gar nicht billig. Zwar, sagt Thodoris, seien die Mieten im Augenblick deutlich niedriger als in Deutschland. Aber für einen Cappuccino kann man schon mal vier Euro bezahlen. Thodoris trinkt übrigens immer Frappé, kalten, mit Milch geschäumten Nescafé. Ansonsten sind hier, wie überall auf der Welt, italienische Kaffeezubereitungsarten auf dem Vormarsch.
Dritter Tag
THESSALONIKI
Nachricht am Abend: Das zyprische Parlament hat den Beschluss zur Belastung aller Sparguthaben gekippt. Die Kommunisten Griechenlands triumphieren: Seht ihr, das kleine Zypern bietet dem IWF und Merkel die Stirn, und ihr wart zu feige!
Vierter Tag
THESSALONIKI, ATHEN
Zugfahrt. Alles geht langsam und gelassen vonstatten. Thodoris habe ich vor einem Jahr beim sogenannten Atriumsgespräch in Straelen kennengelernt, als ich mit den Übersetzern - damals waren es zehn oder elf - meinen Roman diskutierte. Er ist, wie ich jetzt erfahre, das Kind griechischer Arbeitsmigranten, ein Wanderer zwischen den Welten. In Köln gibt es eine geschiedene Frau, mit der er sich irgendwie noch die Wohnung teilt.
In Athen hat er eine Freundin. Aber einen großen, vielleicht den größten Teil seiner Zeit verbringt er anscheinend in Übersetzerhäusern oder Stipendieneinrichtungen oder, wie gerade jetzt, in einem Hotel in Thessaloniki , wo er im Auftrag einer kleinen deutsch-griechischen Zeitung über das gerade stattfindende Dokumentarfilmfestival berichtet, während er mich gleichzeitig bei meinen Lesungen in Thessaloniki, Athen und Chania betreut.
Heimlich nenne ich ihn den Koloss von Samothraki. Er ist so groß und massig, dass ich mich ungern mit ihm fotografieren lasse, aus Angst, klein zu wirken. Abends Lesung in Athen. Zuvor Interview: Was ich an Merkel als „ostdeutsch“ empfinde. Vor allem ihre Art zu reden, sage ich. Sie erinnere mich an meine Kindergartentante.
Fünfter Tag
ATHEN
Auf den ersten Blick unterscheidet sich Athen kaum von Thessaloniki. Die Bausünden der Sechziger prägen auch hier das Bild, nur dass über allem die Akropolis thront, weiß und würdig, so wie ich sie von Postkarten kenne - und doch imponierender, als ich mir vorgestellt habe. Aber kaum haben wir den Fels erklommen und die bombastischen Propyläen passiert, verliert die Akropolis alle Würde. Sie ist bloß noch eine Touristenattraktion, lediglich eine vergrößerte Ausgabe jener Gipsmodelle, so scheint es, die neben alldem anderen Plunder unten in den Gassen der Plaka verkauft werden. Man wundert sich, dass sie nicht längst wegfotografiert worden ist.
Anders geht es mir mit dem Dionysos-Theater, das - jedenfalls um diese Jahreszeit - fast menschenleer ist, entweder weil die Leute es mit dem besser erhaltenen Odeon am Eingang verwechseln oder es gar nicht erst suchen. Eine Weile sitze ich auf den Rängen und versuche mir das Raunen der 17000 Zuschauer vorzustellen, als in irgendeiner frühen, dionysischen Dichtung des Aischylos plötzlich ein zweiter Sänger aus dem Chor heraustrat und einen Dialog mit dem Vorsänger zu führen begann: die Geburt der Tragödie.
Sechster Tag
ATHEN
Am letzten Vormittag in Athen besuchen wir das - eigentlich römische - Stadion. Interessant ist, dass der erste Marathonsieger der Olympischen Spiele der Neuzeit im Jahre 1896, der Grieche Spiridon Louis, hier die damalige Distanz von vierzig Kilometer in 2:58:50 gewann, was umgerechnet auf die heutige Marathondistanz 3:08:39 bedeuten würde: Ich wäre - mit 52 Jahren und einer Zeit von 3:03:51 - Olympiasieger geworden...
Wir sprechen mit J., dem Moderator meiner Lesung, über die Krise. Wo ist sie eigentlich - außer in den Staatsbilanzen und in Medien? Durch die Altstadt wälzen sich schon jetzt, Ende März, Touristen aus aller Welt. In der Fußgängerzone Athens glitzern die Schaufenster. Der Autoverkehr brummt, trotz 1,80 Euro pro Liter. Kurz, Athen sieht aus wie eine funktionierende, europäische Stadt, das heißt wie eine Stadt, die ihr Möglichstes tut, um die Ökobilanz des Planeten zu verschlechtern.
Was J. erzählt, ist gewiss ernst zu nehmen, bleibt aber merkwürdig unvereinbar mit dem Gesamtbild: dass in seinem Freundeskreis fast alle arbeitslos seien. Dass die Gehälter der Griechen, einem neuen Gesetz zufolge, gekürzt werden dürfen und so weiter. Ihm selbst jedoch, einem Übersetzer, geht es immer noch gut. Er bewohnt noch immer seine Hundert-Quadratmeter-Wohnung in Exarchia. Seine arbeitslosen Freunde gründen kleine Unternehmen. Die Leute haben kein Geld, aber irgendwie geht es weiter.
Im Übrigen hält er die griechische Krise für hausgemacht. Er hat siebzehn Jahre in Deutschland verbracht und hält offenbar nicht sehr viel von seinen Landsleuten. Am griechischen Fahrstil will er das Wesen des Griechen erklären: Der Grieche, sagt er, fahre mitten auf der Straße, zwischen den Spuren, weil er sich nicht vorschreiben lassen wolle, wo er zu fahren hat - aus Prinzip.
Siebenter Tag
DELPHI
Streik in Griechenland! Ausgerechnet die Polizei streikt, und was wir davon mitkriegen, ist eigentlich nur, dass ausgerechnet die Stelle, wo der Bus zum Flughafen hält (dort müssen wir unser Mietauto abholen), mit rot-weißen Bändern abgesperrt wird: warum? Ich schnauze den Polizisten an, aber der Mann reagiert ruhig, fast sanft. Würde man einen französischen Gendarmen so anschnauzen, man würde vermutlich eingesperrt.
Dann in Richtung Delphi. Nun habe ich die Gelegenheit, selbst mit dem griechischen Fahrstil Bekanntschaft zu machen, und ich gebe zu, dass es eine Weile dauert, bis mich eine Bemerkung Martinas besänftigt: Zwar scheinen Zahlen und Zeichen keine Bedeutung für sie zu haben, aber zumindest fahren die Griechen nicht aggressiv.
Der Parnass leuchtet weiß in der Ferne. Da oben liegt nicht nur Schnee - auf dem Weg nach Delphi kommen wir sogar an einem regelrechten Wintersportdorf vorbei. In der prallen Sonne und bei zwanzig Grad Außentemperatur stehen Skier zum Ausleihen.
Dann also Delphi. Große Erwartungen natürlich. Mystischer Ort. Man denkt an Ödipus, an Alexander den Großen, der an dieser Stätte den Gordischen Knoten zerhieb. Die erste Enttäuschung: Massen von Touristen, trotz der frühen Jahreszeit. Russen, Japaner - warum nenne ich gerade sie? Haben die Russen oder Japaner nicht das Recht, Delphi anzusehen? Haben nicht überhaupt alle das Recht, Delphi anzusehen?
Das Erstaunliche ist, dass Delphi etwas von seiner Magie behält. Noch nie habe ich an einem Ort, in dem Touristenherden herumtrampeln, etwas empfinden können. In Delphi gelingt das. Ein wahnwitziger Ort. Schon die Lage in den Felshängen des Parnass ist überwältigend. Der Apollo-Tempel, wo die Pythia unter dem Einfluss von (möglicherweise natürlichen, aus einer Erdspalte austretenden) Gasen orakelte, schiebt sich auf schwindelerregende Weise über das Tal. Aber es ist auch das: Man fühlt sich - ich fühle mich in meinem Unglauben erschüttert: Kann es wirklich sein, dass das, was hier über Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende mit so viel Aufwand betrieben wurde, einfach nur Hokuspokus war?
Achter Tag
PATRAS, ARKOUDI, PYRGOS
Richtung Olympia. Wir haben uns vorgestellt, unterwegs irgendwo an der Küste zu übernachten. Aber die Küste ist um diese Jahreszeit ausgestorben, die Hotels sind geschlossen. In Arkoudi finden wir nicht mal ein Restaurant. Uns bleibt schließlich nichts anderes übrig, als nach Pyrgos weiterzufahren - eine interessante Erfahrung: Normalgriechenland.
Wir suchen eine Stunde nach einem typisch griechischen Restaurant, schließlich wird uns mehrmals aufrichtig das „El Greco“ empfohlen. Hier gibt es Burger und Pizza. Die Tischdecken tragen ein Pilsner-Urquell-Logo. Und vermutlich hatten die, die uns das Restaurant empfohlen haben, recht: Das ist Griechenland! Das ist typisch griechisch!
Neunter Tag
OLYMPIA
Dann also Olympia. Was mich am meisten überrascht: Dass das olympische Stadion hier keineswegs eine zentrale Lage einnimmt, sondern, eine schlichte Sandfläche mit grasbewachsenen Böschungen, am Rande, ja fast außerhalb des eigentlich Heiligtums liegt. Wir sind recht früh da, es ist bewölkt, nieselt sogar leicht. Man sieht nur wenige Leute, aber von den wenigen erliegen doch viele der Versuchung, sich an den marmornen Startblöcken fotografieren zu lassen und die 190 Meter abzulaufen - wobei ihnen, meist schon nach der Hälfte der Strecke die Puste ausgeht ...
Dann kurven wir durch Arkadien - Arkadien! - und suchen eine Unterkunft hier. Aber die von den Dichtern verklärte Idylle erweist sich - wie kann es anders sein - als Enttäuschung. Die ewigen Berge; Dörfer, in denen man nie jemanden sieht; und neben den halbfertigen Bauten (angeblich lässt man hier aus steuerlichen Gründen die obere Etage gern unvollendet) sehen wir auch immer mehr regelrechte Investruinen.
Zehnter Tag
NAFPLIO
Zugegeben, nach Pyrgos und der arkadischen Einöde wirkt Nafplio, übrigens die erste Hauptstadt Neugriechenlands, angenehm. Auch wenn die Häuser der Altstadt kaum älter als hundert Jahre sind - nichts im Vergleich zu, sagen wir mal, Bautzen -, aber wenigstens ist man nicht von Sechziger-Jahre-Bauten umgeben. Ein Hafen, verwinkelte Gässchen, griechisch anmutende Restaurants. Vor dem Hotelfenster eine byzantinische, kleine Kirche (Gott sei Dank stellt sich später heraus, dass sie katholisch ist, denn merkwürdigerweise bimmeln die orthodoxen den ganze Tag lang - warum? - in enervierenden Abständen).
Über der Stadt eine venezianische Burganlage, die wir am Vormittag sogleich besteigen. Am Abend schlendern wir dann durch die Altstadt von Nafplio. An Touristen mangelt es hier noch, aber die Läden haben schon alle geöffnet und wirken angesichts der Leere in den Gassen besonders idiotisch. Man kann gar nicht beschreiben, was da alles verkauft wird, nutzloses, buntes Zeug, traditional greek oder auch Kopien alter amerikanischer (!) Postkarten, Puppen, Mützen, Muscheln, Aufkleber.
Dann essen wir noch einmal traditional greek food in einer jener Tavernen, vor denen die Kellner stehen und einen zum Restaurantbesuch animieren. Aber nur wenige hundert Meter weiter, als wir nach dem Essen noch einen Abstecher ins wirkliche Nafplio machen, habe ich zwischen beleuchteten Schaufenstern und blinkender Telefonwerbung auf einmal für einen Augenblick das Gefühl, in Duisburg oder Gelsenkirchen zu sein ...
Griechische Krise? Nein, ich will die Probleme der Menschen, die nicht wissen, wovon sie nächsten Monat ihre Miete bezahlen sollen, nicht beiseitewischen. Aber natürlich wird die Finanzkrise so oder so ihr Ende finden. Dieses Land wird nicht verschwinden - aber es wird im Zuge der Europäisierung und Globalisierung bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden, falls es das nicht schon ist. Das ist die griechische Krise: Der Burger im „El Greco“. Die Fußgängerzonen und die Werbeposter. Die Apple-Läden, die Videoshops, die Armani-Jeans made in China.
Zwölfter Tag
MYKENE
Da stehen wir nun - vor dem Löwentor, das Christa Wolf uns DDR-Bürgern schon vor dreißig Jahren in den Kassandra-Texten beschrieben hat. Von Schulklassen, die wild durchs Gelände stürmen, erinnere ich nicht, gelesen zu haben. Wohl aber erinnere ich mich an den Neid, den ich empfand als jemand, der nicht im Besitz eines Reisepasses war.
Obwohl sehr viel schlechter erhalten als die Akropolis, beeindruckt mich Mykene stärker. Vielleicht liegt es daran, dass die Figuren Homers meine Phantasie beflügeln? Ich taste mit den Augen die Grundmauern ab und frage mich, wo wohl das Bad war, in dem Aigisthos Agamemnon erschlug ...
Dreizehnter Tag
PERACHORA
Seltsamer Fund, den wir mitten in den Bergen, auf dem Weg von Korinth nach Piräus, machen: Unweit des Dorfes Perachora sehen wir zufällig, weil ich mal in die Büsche muss, einen eingezäunten und von Hunden bewachten Autofriedhof ausschließlich mit Ostautos: Wartburgs, Ladas, sogar ein alter Barkas ist dabei - ?
Vierzehnter Tag
ATHEN
Zurück in Athen, auch Thodoris ist wieder da - wo war er inzwischen: Deutschland, Finnland, Grönland? Wir besuchen ihn in der Wohnung seiner Freundin A., Übersetzerin und Lyrikerin.
Mit A., deren Vater ein hoher Polizeioffizier war, sprechen wir über die Diktatur. Zwar war sie während dieser Zeit noch ein Schulkind, doch erinnert sie sich. Öffentlich, auch in der Schule, durfte die Diktatur nicht kritisiert werden. Aber offenbar gehörte es, ähnlich wie in der DDR, zum guten Ton, kritisch eingestellt zu sein, wenngleich - eine Art Umkehrung der Umkehrung - viele die Diktatur in Wirklichkeit nicht vollkommen ablehnten. Offenbar empfanden sie viele als letzte Rettung in einer politisch und wirtschaftlich verfahrenen Situation.
Wirklich verfolgt wurden „nur“ Kommunisten. Die Ausreise blieb immer möglich. Und wenn auch halb im Scherz sagen viele auch angesichts der heutigen Krise, die Diktatur müsse wieder her.
Interessant: Dass der Vater von A. als höherer Beamter nach dreißig Jahren bei vollen Bezügen in Pension ging und ein Transportunternehmen gründete - der Grundstein für einen gewissen Wohlstand, von dem die Familie nun zehrt. Solche Reserven sowie die traditionelle Solidarität innerhalb der griechischen Familie sind sicherlich Gründe dafür, warum die Krise auf der Straße noch nicht offensichtlich ist: Man leiht sich Geld, man hilft sich gegenseitig. Und in Supermärkten kaufen die Menschen mehr, als sie brauchen - und lassen das Überschüssige als Spende für Notleidende zurück. Kann man sich so etwas in Deutschland vorstellen?
Fünfzehnter Tag
CHANIA
Irgendwie ganz heilsam zu sehen, wie wenig Beachtung mein Buch hier findet. Immerhin liegt es in den Läden aus, aber mit den wirklichen, den sozusagen systemischen Bestsellern kann es nicht konkurrieren. Auf den ersten drei Plätzen: drei Bände von „Shades of Grey“. Dass „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ in anderen Ländern einen solchen Erfolg hat, bleibt, trotz des Deutschen Buchpreises, ein kleines Wunder.
Sechzehnter Tag
CHANIA
Nachmittags sind wir mit M., dem Theaterleiter, verabredet. Eigentlich haben wir uns einen gemeinsamen Stadtspaziergang gewünscht, aber M. und seine Frau verladen uns zusammen mit Thodoris in ihren winzigen Suzuki-Geländewagen und fahren uns durch zugegeben wunderschöne Täler und Schluchten hinauf zu dem in den Bergen gelegenen Restaurant „Aimileas“.
Natürlich besteht M., dessen Theater am Rande des Ruins steht, darauf, zu bezahlen. Ich versuche einen Trick, indem ich Thodoris unter dem Tisch meine Brieftasche zustecke und ihn (auf Deutsch) auffordere, die Sache heimlich mit der Restaurantchefin Aimilea zu regeln - aber sie nimmt kein Geld von uns an: Wir sind hier Gäste, sagt sie, die Kreter müssen bezahlen! M. schlägt sich auf die Schenkel vor Freude.
Ich bitte Thodoris, Aimilea zu fragen, was sie von der Krise hält. Krise? Vor fünfzig Jahren, sagte sie, da war Krise. Da war das Leben schwer. Aber heute - was ist das schon für eine Krise!
Ein schöne Antwort, die mich aber nachdenklich stimmt: Ist es nicht tatsächlich auch touristischer Snobismus, auf dem Althergebrachten zu bestehen? Sollen die Griechen noch heute in fensterlosen Hütten wohnen, damit wir Ausländer die griechische Ursprünglichkeit besichtigen können? Aber andererseits: Gibt es den Fortschritt nur in der alles nivellierenden, lebensfeindlichen, ökonomistischen Version?
Siebzehnter Tag
IRAKLIO, KNOSSOS
Dann also Knossos. Was am meisten überrascht: dass eine so kleine Insel einen solchen Palast hervorgebracht haben soll! Und obwohl die minoische Kultur - die wirkliche Wiege Europas - noch tausend Jahre älter ist als die mykenische, ist der Palast von Knossos wesentlich besser erhalten als der von Mykene, wenngleich in Knossos auch viel mehr restauriert worden ist.
In Iraklio sind wir mit K., einem Verlagsvertreter verabredet: ein schmächtiger, schlanker Mann in Begleitung einer auf anziehende Weise üppigen Psychologin. Wir essen typisch kretisch (ich erinnere mich an leicht gesäuertes Risotto aus einheimischem Reis mit geschmorten Ziegenrippchen), sprechen über die desaströse Situation auf dem Buchmarkt und über die Krise. K. neigt zu Verschwörungstheorien und verdächtigt Merkel, von irgendwem beauftragt zu sein, die griechische Wirtschaft durch die Unterbindung des Exports zum Beispiel von Oliven niederzumachen.
Zwar liegt das Problem in diesem Fall wohl an den überalterten griechischen Bäumen, die sich nicht maschinell abernten lassen. Aber grundsätzlich hat er nicht so unrecht, da Deutschland die anderen EU-Länder ja tatsächlich zu Tode zu exportieren droht, und zwar weil die Löhne in Deutschland zu niedrig sind! Das ist ein Gedanke, der K. ziemlich verblüfft.
Deutschland gilt im Ausland als reich. Die Statistik sagt aber, dass Spanier und Italiener im Durchschnitt wesentlich mehr netto besitzen als Deutsche und dass es in Italien, obwohl kleiner als Deutschland, mehr Millionäre gibt. Unter anderen sind es die neuen Teilzeitarbeiter und Wenigverdiener, die zur Senkung der durchschnittlichen Arbeitskosten in Deutschland beitragen.
Auf dem Rücken der Ärmsten werden die Interessen der deutschen Industrie durchgeprügelt, was dann in der Politikersprache dann Niedriglohnsektor heißt. - Sektorengrenze: schöner, neuer Sinn. Die Grenze, sage ich zu K., verläuft nicht zwischen den Deutschen und den Griechen, sondern zwischen denen, die immer reicher, und denen, die immer ärmer werden. Damit ist er dann einverstanden.
Achtzehnter Tag
ARVI, MIRTOS, IERAPETRA
Die südlichste Stadt Europas heißt Ierapetra, schwierige Betonung auf dem ersten a, und trägt, so der Reiseführer, schon nordafrikanische Züge. Tatsächlich findet man hier einige maurisch anmutende Häuser, weiße Kuben ohne das griechische Dach, wenngleich die Straßen der Innenstadt sich im notorischen Sechziger-Jahre-Stil präsentieren.
Am Nachmittag entdecken wir in der Stadt ein Plakat, das wir kennen. Wir haben es vor einigen Tagen in der Eingangstür von Aimilea gesehen, jener siebzigjährigen Wirtin im Bergdorf. Der junge Mann mit der Lyra, so hat uns Aimilea erzählt, sei ihr Enkel. Nun spielt er ausgerechnet heute hier in Ierapetra.
Um neun soll es beginnen, in einem Lokal, wie man es auch in Prenzlauer Berg finden könnte, großstädtisch, mit viel Glas, voller junger, schwarzgekleideter Menschen, nicht gerade das, war Griechenland-Urlauber anzieht. Junge Menschen, die traditionelle Musik machen - übrigens elektronisch verstärkt sogar mit einem elektronischen Schlagzeug.
Und es ist wunderbare Musik! Keinerlei Ähnlichkeit mit der traditional greek music, noch nicht einmal mit dem Rembetico, den wir an unserem ersten Tag gehört haben. Es ist offenbar kretische Musik, mit deutlich arabischen Einflüssen, schwermütig und stolz und von einer gewissen, an die kretischen Berge erinnernden Schroffheit. Verrückt ist nicht nur, dass junge Musiker diese traditionelle Musik spielen, noch verrückter ist, dass all die schwarzgekleideten jungen Leute im Lokal diese Musik lieben und mitsingen. Sie kennen die Texte!
Eine Weile beobachten wir einen dicken, bärtigen Mann, der die ganze Zeit ganz still an seinem Tisch sitzt, nur die Lippen synchron zum Sänger bewegt. Später stehen sie auf und tanzen. - Und ich bin beschämt: „Früher haben die Griechen getanzt“, habe ich vor vielen Jahren eine Deutsche in einem Theaterstück sagen lassen, „heute wollen sie so werden wie wir!“ - Voreilig, wie ich nun zugeben muss: Sie tanzen! Wie lange noch? 


  • Wie lange noch werden diese Menschen die Lieder an ihre Enkel weitergeben? Ich wage lieber keine Prognose.
 http://www.faz.net
28/5/13

1 comment:

  1. Griechische Transformationstragödie: Von Stolz, Sündenböcken und technokratischer Blindheit

    Die technokratische Art der Problemlösung in Griechenland ist beispiellos, schreiben Bernd Hüttemann und Daniel Sahl in einem Standpunkt. Die griechische Rechnung werde ohne die Zivilgesellschaft gemacht.......

    "Griechenland ohne Zivilgesellschaft – keine gute Nachricht für die Zukunft des Landes". (1) War diese EBD-Überschrift Ende letzten Jahres eine plumpe Provokation? Zumindest erste Reaktionen klangen beleidigt. Wie kann es sein, dass die älteste Demokratie der Welt keine Zivilgesellschaft hat? Wie kann man das nur behaupten? Was immer die Menschen in Griechenland auf Grund von Sparzwängen und Reformen durchmachen müssen, es ist nicht nur in Einzelschicksalen unglaublich. Ohne Beispiel sind plötzliche Entbehrungen in der jüngeren europäischen Geschichte nicht. Beispiellos jedoch ist die technokratische Art der Problemlösung. Die griechische Rechnung wird ohne die Zivilgesellschaft gemacht. Denn einen strukturierten griechischen oder gar europäischen Plan, wie Bürgerengagement und Selbstorganisation die Griechen durch die Krise führen und für die Herausforderungen stärken kann, gibt es nicht.

    Eine kleine Geschichte von nationalem Stolz, Sündenböcken und technokratischer Blindheit für die gesellschaftlichen Grundlagen gelebter Demokratie.......http://www.euractiv.de/soziales-europa/analysen/griechische-transformationstragoedie-von-stolz-suendenboecken-und-technokratischer-blindheit-007602
    5/6/13

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